Ausschnitte aus „Über den Tod hinaus“

„Ich werde mal Wasser holen gehen“, sagte die alte Frau, nahm einen Topf und ging zur Tür.
„Ich kann das doch machen“, sagte ich eifrig und stand auf.
„Ach, meine Liebe, das wär furchtbar nett von dir. Ich kann das zwar noch alles gut selbst, aber es ist mal eine Abwechslung, wenn es mir jemand abnimmt“, sagte sie und gab mir den Behälter.
„Wo kann ich denn Wasser holen?“, fragte ich.
„Hinter dem Haus müsste ein Fluss sein.“
Ich ging hinter das Haus, konnte jedoch kein Anzeichen von Wasser erkennen. Hatte ich sie falsch verstanden? Ich umrundete das ganze Haus. Da war nur Wald, in welche Richtung ich mich auch wandte. Ich drehte mich um, um zurückzugehen und nochmals zu fragen. Doch plötzlich hörte ich lautes Geplätscher hinter mir und blickte auf einen breiten Fluss. Merkwürdig, da war doch gerade gar nichts gewesen! Etwas so Offensichtliches hätte ich doch nicht übersehen können! Vor Erstaunen blieb ich wie angewurzelt stehen, bis mir wieder einfiel, dass ich doch eigentlich Wasser holen sollte. Langsam ging ich auf den Fluss zu und war gespannt, ob er wohl wieder verschwinden würde. Doch er floss unaufhörlich weiter. Ich bückte mich, hielt den Topf hinein und sah ungläubig zu, wie er sich sofort mit Wasser füllte. Bevor ich die Haustür aufstieß, warf ich noch einen letzten Blick auf den reißenden Fluss. Er brodelte weiterhin laut vor sich hin. Ich schüttelte den Kopf und ging ins Haus.
Lena und die alte Frau saßen am einzigen Tisch und unterhielten sich. Sie schienen sich über irgendetwas zu amüsieren. Als die alte Frau mich erblickte, stand sie leichtfüßig auf und nahm mir den Wassertopf aus der Hand.
„Vielen Dank, meine Liebe. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt – Hilda ist mein Name. Und wie heißt du, junges Fräulein?“
„Malika, aber bitte nennen Sie mich Mali.“
„Was für ein hübscher Name! Aber bitte duze mich, sonst fühle ich mich so alt.“ Sie erwärmte das Wasser auf einem altmodischen Herd, in dem jetzt ein Feuer brannte, und summte vor sich hin, während sie Kakaopulver in die Tassen füllte.
Ich setzte mich zu Lena. „Mir ist gerade etwas Komisches passiert,“ sagte ich. „Erst war dort kein Fluss und plötzlich doch. Als wäre er immer da gewesen. Ich konnte den doch unmöglich übersehen haben! Was ist das hier für ein seltsamer Ort?“
Lena hob nur gelangweilt die Schultern. „Ja, das passiert ab und zu. Liegt einfach an der Vorstellung“, sagte sie.
„An der Vorstellung? Wie kann ich mir denn einen ganzen Fluss vorstellen! Entweder er ist da oder nicht da“, erwiderte ich empört.
„Aber so ist es“, sagte sie schlicht, damit war für sie das Thema beendet.
Das konnte doch überhaupt nicht funktionieren: Sich Dinge vorzustellen und dann waren sie da! Alle Gesetze der Vernunft und der Physik sprachen dagegen. Aber vielleicht hatte Lena das ja philosophisch gemeint. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass ich mal gelesen hatte, dass eigentlich nichts wirklich existierte, sondern nur in der eigenen Vorstellung. Damals hatte ich das für eine ziemlich absurde Idee gehalten, aber hier, in dieser seltsamen neuen Umgebung, war alles anders. Ein Fluss, der aus dem Nichts auftauchte. Ein Bildschirm im Waldboden. Ein märchenhaft sauberer Strand, ein traumhafter Sonnenuntergang. Bislang hatte ich mich über nichts gewundert, erst der Fluss hatte mir gezeigt, wie anders es hier war …
Ich kam ins Grübeln. Hilda hatte mir gesagt, dass der Fluss da war, also hatte ich auch gedacht, dass er hinter dem Haus sein müsste. Demnach hatte ich ihn mir nicht vorgestellt, sondern er existierte bereits in meinen Gedanken. Hilda hatte den Fluss gewissermaßen in meinem Kopf entstehen lassen, bevor ich überhaupt zur Tür hinausgegangen war. Und Lena hatte gesagt, das plötzliche Auftauchen des Flusses läge an der „Vorstellung“. Stellten sich Lena und die alte Hilda den gleichen Fluss vor wie ich? Oder hatte jeder sein eigenes Bild von einem typischen Fluss im Kopf? Einem, wie er ihn irgendwann mal gesehen hatte. Und was war, wenn man die Frage anders herum stellte? Konnten hier alle möglichen Fabelwesen herumlaufen, die ich nur deshalb nicht sehen konnte, weil ich nicht wusste, wie ich sie mir vorzustellen hatte?
Wenn dem so wäre, wäre jede Form von Magie möglich, dachte ich aufgeregt. Es könnten Dinge existieren, von denen ich noch nie gehört hatte. Es könnte Marsmenschen geben, aber da meine Vorstellung, dass es Marsmenschen gibt, nicht vorhanden war, konnte ich sie auch nicht erkennen. Wenn also jeder Mensch wirklich die Vorstellung hätte, dass es Magie geben würde, dann könnte wir alle sie auch sehen. Aber natürlich nur wenn es wirklich Magie gäbe, oder? Oder wäre dann alles Einbildung? Würden wir nur Dinge sehen, die gar nicht da waren?
Ich überlegte mir noch alle möglichen Sachen, als Hilda den Kakao auf den Tisch stellte. „Lasst ihn euch schmecken“, sagte sie lächelnd und setzte sich auf den dritten von nur drei Stühlen.
Ich hätte erwartet, dass der Kakao zu heiß gewesen wäre, doch er war genau so, wie ich ihn mir gewünscht hatte, außerdem süß und wahnsinnig lecker. Oder entsprach das auch nur meiner Vorstellung?

2. Abschnitt

„Alles okay?“ Lena sah mich fragend an.
„Aber ja! Jetzt weiß ich`s wieder: Marlon ist mein bester Freund seit Ewigkeiten und seit der Siebten liebe ich Jonas. Der mit dem unschlagbaren, wunderschönen Lächeln.“ Ich fühlte mich glücklich. Doch ein seltsames Gefühl blieb. „Bloß eines ist komisch“, sagte ich.
„Was denn?“, fragte sie.
„Na ja, wieso weinen alle? Meine Mum, Marlon, der Mann mit den roten Haaren? Wieso sind sie schrecklich traurig?“, sagte ich und sah sie fragend an.
„Was glaubst du denn?“, entgegnete sie.
„Ich weiß nicht. Es ist merkwürdig, dass sie solche Schmerzen empfinden.“ Ich sah Lena an. Sie war jetzt sehr ernst. Es sah fast so aus, als stünden Tränen in ihren Augen, aber das lag vielleicht am Licht, das sich auf dem Wasser des Bachs spiegelte. „Lena,“ sagte ich und meine Stimme klang wohl sehr kläglich, „wieso sind all die Menschen, die ich liebe, nicht hier?“
„Du weißt es. Denk mal darüber nach“, sagte sie und versuchte zu lächeln.
Zuerst meine Mum, die sich bei mir entschuldigte, dann Marlon, der sagte, dass er für mich gestorben wäre. Wieso konnte ich sie nur durch einen seltsamen „Bildschirm“ betrachten und nicht richtig? Und dann die Tatsache, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich eigentlich genau war.
„Ich bin doch nicht etwa tot?“
Lena legte den Arm um meine Schulter. Eine Träne lief ihr über die Wange. „Nein, Malika. Tot bist du noch nicht, du schläfst bloß“, sagte sie und wischte sich die Träne fort.
„Was meinst du damit? Ist das alles ein Traum?“ Ich fühlte mich emotionslos, schon fast unbeteiligt.
„Du liegst im Koma. So, wie alle anderen hier.“ Sie versuchte mir in die Augen zu sehen, doch ich konnte ihrem Blick nicht standhalten.
Wie alle anderen hier? Was sollte das bedeuten? „Wo …“, sagte ich mit trockenem Mund, „… wo sind wir hier?“
„Du bist dort, wo sich jeder zwischen Leben und Tod entscheiden muss. Wir nennen es die Zwischenwelt“, antwortete sie.
„Was? Wie … wie komme ich hierher?“, fragte ich. Ich hätte geweint, wenn ich gekonnt hätte. Doch ich empfand keinen Schmerz, keine Trauer. Ich konnte nicht sagen, was in mir los war. Ich wollte einfach nur wissen, was mit mir geschehen war.
„Ich kann dir nicht sagen, wie du hierher gekommen bist. Jeder muss allein herausfinden, was passiert ist“, sagte sie.

3. Abschnitt

Ich atmete die Luft ein, die immer noch so lieblich nach Rosen duftete. Aber ich nahm nur den Duft der Rosen wahr, Jonas’ eigener Geruch war nicht da. Das war zwar so eigenartig, dass mir leise Zweifel kamen, ob er wirklich bei mir war, doch weil Jonas mich gleichzeitig so liebevoll ansah, hätte nichts auf der Welt mich dazu bringen können, diesen Moment zu zerstören. Wir schlenderten durch den Rosengarten, liefen über eine Wiese, gingen völlig ziellos. Ich wusste nur, dass ich mit ihm zusammen sein wollte, egal wo. Wir sprachen kaum ein Wort, es war, als würde die Verbindung unserer Hände alles ausdrücken, was zu sagen war. Jonas’ Gegenwart umhüllte mich wie einen Kokon, den nichts durchdringen konnte. Seine Hand hielt mich so fest, als hätte er Angst, ich würde ihm entkommen.
Jonas sagte: „Ich liebe dich mehr als alles in dieser und der realen Welt. Aber lass uns fortgehen von diesem Schloss und seinen vielen Gärten. Hier muss ich ständig über alles Mögliche nachdenken, was mich unwahrscheinlich deprimiert!“, rief er und stand auf.
Hand in Hand liefen wir los, viel mehr ließ ich mich von ihm mitziehen, aber es war, als würden wir uns nicht bewegen.  Sobald wir uns umsahen, war das Schloss so weit entfernt wie zuvor. Gingen wir weiter, schien es uns zu folgen.
Plötzlich ging eine erschreckende Veränderung mit Jonas vor sich. In seinem Gesicht las ich Trauer, Wut und Verzweiflung. Und dann machte er sich von mir frei, drehte sich im Kreis und schrie alles hinaus, was in ihm vorging: „Das kann doch nicht euer Ernst sein!? Das war ganz bestimmt nicht das, was wir ausgemacht haben!“
„Hey, was ist los?“ Ich legte meine Hand auf seine Schulter, doch er starrte nur auf das immer noch weit entfernte Schloss. Sein Atem ging jetzt so schnell, als wäre er extrem aufgeregt.
„Wir werden nicht gehen können“, sagte er mir den Rücken zugewandt.
„Wieso nicht?“
„Wir werden hier blieben müssen. Jedenfalls muss ich das.“
„Was meinst du damit?“, fragte ich. Was er da sagte, ergab keinen Sinn. Jonas lag ebenso wie ich im Koma, dann durfte er tun, was ich tun durfte! Und ich konnte überall hin.
„Du siehst zwar, dass ich in dieser Welt bin, aber es ist etwas komplizierter“, begann er. Seine Hand hielt meine so fest, als fürchtete er, dass ich ihm davonlaufe. Doch merkwürdigerweise schien sein Körper, die Person, die er war, wegzubröckeln. Als sei er ein Hologramm, das sich auflöste.
„Jonas! Was geschieht mit dir?“, rief ich, aber er sah mich nur überrascht und verzweifelt an. Immer wieder rief ich seinen Namen, aber sein Körper löste sich einfach auf. Eine Weile meinte ich noch, den Druck seiner Hand zu spüren. Aber ich griff ins Nichts.

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